Rheinische Post AM NIEDERRHEIN 4. Oktober 1982

Demonstrationsleitung in Kalkar ließ die Randalierer weitgehend gewähren

Erst Musik und dann Gewalt

Von unserem Redaktionsmitglied Jürgen Diebäcker

Kalkar Morgens auf dem Kalkarer Markt, im Schatten des Rathauses von 1445 und einer 400 Jahre alten Gerichtslinde, ging alles nicht nur friedfertig zu, sondern glich sogar eher einem Rockfestival mit Jahrmarkt als einer „Demo" in Sachen Kernkraft: Ein paar Bärtige musizierten mit Drehleier und Rundbögen; das Publikum labte sich mit Marmelade-Stullen oder Grillwürsten vorzugsweise an Ständen, die zehn Prozent des Gewinns an die Demon­strantenkasse abzuführen versprachen; und als die Sirenen vom Tonband schrillten, legten sich zum „die-in" knapp 15 000 gemeinsam aufs Pflaster, um Massenster­ben bei einem Reaktorunfall anzudeuten. 

300 Vermummte griffen die Polizei an
Ein paar Stunden später zeigte die heile grüne Welt ihr zweites Gesicht: Vor dem Schnellen Brüter am Rheinufer griffen gut 300 Vermummte, nicht gerügt oder gehin­dert von der Demonstrationsleitung und gedeckt von Sympathisierenden, mit Wurf­geschossen aller Art die Polizei an, die sich fast zwei Stunden lang mit Wasserwerfern und Tränengas wehren mußte. Und ein Teil der inzwischen etwa 18 000 sah mit erkenn-. barer Sympathie für die Randalierer zu.

8000 Polizisten im Einsatz
Das zwiespältige Bild dieser vierten „internationalen" Demonstration gegen den Kalkarer Brüter, bei der etwa 5000 Nieder­länder nicht nur friedfertig mitmachten, hatte sich schon im Vorfeld abgezeichnet, als aus den in einem „Koordinierungsausschuß" vereinten Veranstaltergruppen mal gewalttätige, mal friedfertige Töne drangen. So hatte sich Landesinnenminister Schnoor als Heerführer der Gegenseite mit rund 8000 Polizisten gerüstet. Die Zufahrten nach Kalkar wurden abgeschottet, Fahrzeuge Anreisender erfolgreich kontrolliert: Es fanden sich etwa 700 Eisenstangen, Helme, Stahlschleudern, Messer, Ketten, Spaten, Masken und Enterhaken, auch ein Beil und ein Bolzenschußgerät. 14 Waffenträger wur­den festgenommen.

Uneinigkeit im "Ko-Ausschuß"
Noch am Samstagmorgen bestand im „Ko-Ausschuß" Uneinigkeit, ob man fried­fertig auf der dem Brüter gegenüberliegen­den Wiese des Bauern Josef Maas demon­strieren oder die mit Gittern der Polizei gesperrte, am Kraftwerk vorbeiführende Straße zu „öffnen" versuchen solle. Fünf Ausschußmitglieder plädierten für Gewaltlosigkeit, drei für erneute Diskussion an der Sperre, was dort nach Lage der Dinge nur Krawall bedeuten konnte. Doch zu neuen Erörterungen kam es gar nicht mehr. Gruppen schwarzledriger Gestalten, darun­ter ganz junge, die das Wort Plutonium wohl nicht einmal buchstabieren können, began­nen, Steine, Knüppel und Flaschen auf die Polizei zu werfen, ehe der Demonstrations­zug überhaupt die Wiese grreichte. Die Polizei antwortete mit Wasserwerfern, die Tränengaszusätze in den Tanks hatten.

Kein Versuch, die Randalierer zu isolieren
Die Demonstrationsleitung in ihrem Lautsprecherwagen tat nichts, um das „Gefecht" zu stoppen, bat lediglich immer wieder, den schmalen Zugang zur Wiese nicht zu blockieren: Keine Aufforderung, das Steinewerfen einzustellen, kein Ver­such, die Randalierer zu isolieren. Stattdes­sen waren eine „dritte und letzte Aufforderung an die Polizei" zu hören, die Sperre zu öffnen, Bitten um Spenden, die das Finanz­loch in der Demo-Kasse schließen sollten, und Protest „gegen die Gewalt der Polizei".

Für eine stillschweigende Duldung der Gewalttäter spricht auch ein von der „Sanigruppe und Ermittlungsausschuß Münster" herausgegebenes Flugblatt, das am Morgen vor dem Wohnwagen der Demonstrationsleitung ausgelegt worden war. Darin wurden nicht nur übliche Verhaltensregeln gegeben, sondern auch Tips wie dieser: „Wenn du bei einer sogenannten strafbaren Handlung erkannt oder fotografiert worden bist, ist es von Vorteil, dein Äußeres zu verändern." Von Tränengas „verseuchte Klamotten" seien „auf keinen Fall offen im Wagen liegen zu lassen".

Erst gut 90 Minuten nach Beginn der Steinwürfe machten sich ein paar mutige Demonstranten daran, die Gewalttäter mit ihren Leuchtkugeln und Molotow-Cocktails am Werfen zu hindern, indem sie sich zwischen Vermummte und Polizei stellten. Erboste Pfiffe, Steine und Tränengas ver­trieben sie bald. Pfiffe auch, als ein Redner der Schlußkundgebung mahnte, man solle sich durch solche Aktionen „nicht mit Anarchisten und Kommunisten in einen Topf werfen lassen". Man war mit ihnen und den Gewalttätern längst in einem Topf, und ein Teil der Veranstalter wertete solche „Solidarität" offenbar höher als scharfe Trennung und kleinere Teilnehmerzahlen.

So blieb am Schluß einmal mehr die Erkenntnis, die ein junger „Grüner" an der umkämpften Kalkarer Rotdornhecke unter Tränen zog: „Die Idioten haben alles kaputt gemacht!" Derweil schloß die Kundgebung nach 20 Minuten mit der Forderung „Frei­heit für alle Homosexuellen und Lesben" und dem Rat der Veranstalter zu einem „geordneten Rückzug, um uns vor den Ubergriffen der Polizei zu schützen": Legen­denbildung, die niemandem nutzt.

Die „Demo Kalkar 82" ist gelaufen. Alle Beteiligten geben sich zufrieden. Zumin­dest äußerlich. Im stillen Kämmerlein aber wird an den nächsten Tagen und Wochen, daran gibt es keinen Zweifel, noch manches aufzuarbeiten sein. Zu viele Ungereimtheiten gab es um diese Demonstration. Schon während der Vor­bereitungen hatte es widersprüchliche Aussagen über Gewaltanwendungen ge­geben. Und auch im Verlauf der ersten Phase der Demonstration auf dem Kalka­rer Marktplatz waren klare Aussagen sel­ten, so daß die Ausschreitungen der rund dreihundert Chaoten keinesfalls völlig unerwartet kamen.

Grenzen

Anscheinend aus heiterem Himmel kam ein anderer Blitz: Das Gros der Mit­glieder des Koordinationsausschusses, auf den Polizeioberrat Hans Jürgen Za­charias noch während des Wasserwerfereinsatzes nichts kommen lassen und dem er das Prädikat „hervorragend" zu­erkannt hatte, fand sich nach dem Ende der Demonstration nicht bereit, sich von den Gewalttätern zu distanzieren. Ledig­lich Hildegard Husung zog in einer per­sönlichen Stellungnahme eine klare Grenze.

Aber auch noch andere Kernkraftwerksgegner aus dem Klever Land müssen nun Stellung beziehen, und zwar nicht nur zu ihrer Einschätzung der gewalttätigen Chaoten, sondern auch der Demonstranten, die ihnen untätig, aber sichtlich beifällig bei ihren Ausschreitungen zusahen. Wer die Grenze zur Gewalt nicht scharf zieht, wird das Sprichwort erinnern lassen müssen:
„Sage mir, mit wem du umgehst, und ich sage dir, wer du bist"

Alois Puyn

Anmerkung:  Das Layout wurde zur besseren Übersicht und Lesbarkeit nachträglich geändert mit Zwischenüberschriften!

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