NRZ 15. November 1978 Magazin
Bundeswirtschaftsminister Graf Lambsdorf, Außenminister Genscher,
Bundesinnenminister Baum, NRW-Wirtschaftsminister Riemer
Eine lange Nacht brüteten die Liberalen über Kalkar
Von NRZ-Redakteur MANFRED OETTLER
MAINZ. Als die Nacht des langen Brütens über Kalkar vorbei war, stand der FDP-Vorsitzende Hans-Dietrich Genscher sichtbar erregt im Foyer der Rheingoldhalle in Mainz. Die kühle Beherrschtheit hatte er abgestreift, als er - umringt von Journalisten - zur Entscheidung des FDP-Parteitags über den Kalkarer „Schnellen Brüter" in gehobener Lautstärke sagte: „Die können beschließen, was sie wollen"!
Den Delegierten hatte Genscher schon vor der Abstimmung zu mitternächtlicher Stunde deutlich gemacht, was damit gemeint war. „Zwei Bundesminister haben in Sachen Kalkar ihr Wort gegeben, die beiden anderen FDP-Minister stimmen dem Bonner Koalitionsbeschluß zu. Ich werde mein Wort nicht brechen, um der Glaubwürdigkeit willen". Aber vorangegangene Turbulenzen hatten die Stimmung unter den Delegierten bereits so aufgewühlt, daß es dem FDP-Chef auch mit diesem leidenschaftlichen Appell nicht mehr gelang, das Ruder herumzuwerfen. Die Liberalen steuerten mehr schlingernd als geradewegs auf einen Beschluß zu, der auf eine Absage der Brutreaktor-Technologie hinausläuft. Dabei war nach der vorhergehenden Entscheidung des Parteitages, keinen generellen Baustopp für Kernkraftwerke zu beschließen, bei der in den letzten Tagen arg gebeutelten Parteispitze vorübergehend so etwas wie Erleichterung zu verspüren gewesen. Die ernstgemeinte Rücktrittsdrohung von Bundeswirtschaftsminister Lambsdorff war damit vom Tisch. Und man sprach bereits von der „Wiederaufbereitung des Grafen Lambsdorff'. Je später der Abend, kam es dann aber noch einmal knüppeldick. NRW-Wirtschaftsminister Riemer begründete unter immer wieder aufbrausendem Beifall ein entschiedenes Nein zum Brüter-Projekt in Kalkar. Er malte ein düsteres Bild vom Atomstaat und sprach von Gefahren für Millionen Menschen. Assistiert von NRW-Innenminister Hirsch sah Riemer eine Lawine in Bewegung geraten, die nicht mehr aufzuhalten sei, wenn die FDP nicht jetzt ein klares Nein zu Kalkar finde. Hirsch ahnte, daß ein perfekter Überwachungsapparat auf uns zukommen würde und warnte: „Wir haben die Verpflichtung, unseren Kindern keine ungelösten Probleme zu hinterlassen". Bei so viel emotionaler Wucht vermochte sich die Bonner Ministerriege der Liberalen kaum noch Gehör zu verschaffen. Genscher versuchte gemeinsam mit Lambsdorff und Baum klarzumachen, daß mit dem Projekt in Kalkar noch nicht über den Einsatz der Technologie im kommerziellen Sinne entschieden werde. Nach dem Willen der Bonner Koalition solle lediglich die Option für eine spätere Nutzung der Brütertechnologie offengehalten werden. Er mahnte, die Glaubwürdigkeit der FDP und die Kontinuität der Bonner Regierungsarbeit nicht in Frage zu stellen. Umsonst. Der in Hamburg abgehalfterte Senator Biallas beschied dem FDP-Vorsitzenden kühl, es sei ihm lieber, wenn einige FDP-Minister ihr Gesicht verlören als daß die Partei insgesamt solcherart Gesichtsverlust erleide. |
Der Parteitag geriet aus den Fugen. Um elf Minuten vor elf wurde Schluß der Debatte gefordert und abgelehnt. FDP-Generalsekretär Verheugen hatte zuvor darauf verwiesen, ein tragbarer Kompromiß sei noch nicht in Sicht. Genscher und Lambsdorff saßen übermüdet auf ihren Sitzen am Vorstandstisch, zurückgelehnt, beinahe resignierend, mit bitterer Miene. Vehement dabei, neben Genscher, Baum, Verheugen, Lambsdorff, Riemer und vielen anderen, auch Helga Schuchardt aus Hamburg, die nach der Abstimmung mit Freunden diesen Beschluß noch lange in der „Reblaus" in Mainz feierte. FDP-Generalsekretär Verheugen war es dann schließlich, der mit einem Änderungsvorschlag den Weg freimachte für die Abstimmung. Die Änderung verschärfte auf den ersten Blick noch die ursprüngliche Vorlage. Die Bonner Minister lehnten bei der Abstimmung entschieden ab. Graf Lambsdorff später, druckreif wie immer:„Verheugen hat bereits nach 24 Stunden in diesem Amt gezeigt, daß er eine Fehlbesetzung ist". Gestern morgen hatte sich die Aufregung bei vielen Gegnern des Beschlusses einigermaßen gelegt. Da erkannte man im Vorspann der Forderungskatalogs, was nach Mitternacht in der allgemeinen Unruhe doch etwas untergegangen war. Da heißt es nämlich ziemlich unverbindlich: „Der Bundesparteitag empfiehlt den Bundesministern und der Bundestagsfraktion der FDP in folgendem Sinne mit dem Koalitionspartner zu verhandeln...". Der Vorstoß Verheugens - von manchen jetzt als taktisch klug gelobt -erschien in einem anderen Licht: die Bonner FDP ist keineswegs festgelegt. Angst vor Atomstatt Um die Sitze von Riemer und Hirsch bildete sich eine Traube von NRW-Delegierten, die auf die Minister einredeten. Derweil konnten sich die Redner kaum noch Gehör verschaffen. Hirsch umklammerte den Stock mit dem Silberknauf des Grafen Lambsdorff wie eine Stütze. Kurz darauf sah man die Wortführer der Redeschlacht im Gänsemarsch zum anderen Ende des Vorstandstisches ziehen. Eine weitere Menschentraube. Unterbrechung der Sitzung wurde gefordert, weil alles gebannt auf jene „Experten" starrte, die da oben einen Kompromiß auszukungeln versuchten. Besonders engagiert zeigte sich da oben die Abgeordnete Matthäus-Maier, die vorher zur Zukunft Kalkars gemeint hatte: „Lieber jetzt eineinhalb Milliarden in den Sand gesetzt, als später den Atomstaat".
Anmerkung: Das Layout wurde zur besseren Übersicht und Lesbarkeit nachträglich geändert! |
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