Schneller Brüter wird weitergebaut Rheinische Post 15. Dez. 1978
Bonn — Unter dem
massiven Druck einer Rücktrittsdrohung der vier FDP-Bundesminister und
des Fraktionsvorsitzenden Mischnick haben gestern abend die sechs
freidemokratischen Gegner des Schnellen Brüters in Kalkar einen gemeinsamen
Entschließungsantrag der Koalitionsfraktionen SPD und FDP zum Weiterbau des
umstrittenen Atom-Reaktors durch Stimmenthaltung passieren lassen. Mit 230
Stimmen der Koalition gegen 225 Stimmen der CDU/CSU bei Stimmenthaltung der
„Rebellen" sprach sich der Bundestag für den Schnellen Brüter aus. In der
ganztägigen Debatte kündigte der nordrhein-westfälische Ministerpräsident
Rau (SPD) an, daß die Landesregierung in Düsseldorf die umkämpfte 3.
Teilerrichtungsgenehmigung für den Schnellen Brüter geben werde. Für die sechs Parlamentarier erklärte der Abgeordnete Gärtner am Abend im Bundestag, sie lehnten den Koalitionsantrag weiterhin ab. Wegen der Personalisierung der Kalkar-Frage innerhalb der FDP sähen sie allerdings keine Möglichkeit mehr, ihr „Nein" zum Schnellen Brüter aufrechtzuerhalten. Ihre Ablehnung begründeten sie damit, daß sechs Abgeordneten Erklärungen gleichen Inhalts verbreiteten. Als ein „Armutszeugnis" für Partei- und Fraktionsführung verurteilte der Judo-Vorsitzende Strässer die massive Rücktrittsdrohung der vier FDP-Minister. Es müsse gefragt werden, ob der Parlamentarismus durch solche Eingriffe „nicht zur Phrase" werde. Das FDP-Verhalten sei nicht geeignet, bei der Jugend eine neue Glaubwürdigkeit für die Politik der Partei zu gewinnen, wenn Parteitagsbeschlüsse, noch ehe sie gedruckt seien, zur „Makulatur" würden. |
Mit der Annahme des Koalitionsantrages beschloß der Bundestag die Einsetzung einer Enquete-Kommission, welche die zukünftig notwendigen Entscheidungen zur Kernenergiepolitik darstellen und Empfehlungen für entsprechendes Handeln erarbeiten soll. Unabhängig davon soll die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen die dritte Teilerrichtungsgenehmigung geben können. Die „Dissidenten" in der FDP hatten entsprechend einem Beschluß des FDP-Parteitages in Mainz gefordert, daß die Genehmigung erst nach Vorliegen der Ergebnisse der Koalition zu qeben sei. Ein von der CDU/CSU vorgelegter Antrag, nach dem die Bundesregierung die Landesregierung in Düsseldorf anweisen solle, die Genehmigung zu erteilen, wurde von der Koalition geschlossen abgelehnt. In der fast siebenstündigen, teilweise hitzigen Debatte über die Fortschreibung des Energieprogramms der Bundesregierung hatte der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Rau (SPD) mitgeteilt, daß die umstrittene Teilerrichtungsgenehmigung für Kalkar nach der Entschließung des Bundestages erfolgen werde. Der Anweisungsforderunq der Union erteilte er mit der Begründung eine Absage, daß dies ein Weg am Bürger vorbei sei. „Wir in Nordrhein-Westfalen wollen diesen Schritt nicht und bedürfen nicht der Anweisung", erklärte Rau. Er bedauerte zugleich, daß der Vorschlag des nordrhein-westfälischen Wirtschaftsministers Riemer (FDP) den Schnellen Brüter zu einer Plutonium-Vernichtungsanlage , umzubauen, „viel zu knapp, zu schnell, zu nebenbei" bewertet worden sei. Zuvor hatten sich alle Sprecher für den Weiterbau in Kalkar ausgesprochen. Graf Lambsdorff hatte außerdem auf das Energiesparprogramm sowie die verstärkte Nutzung der einheimischen Kohle für die Energiegewinnung verwiesen. Dadurch werde der Rahmen der Kernenergie abgesteckt. Daran müsse jedoch festgehalten werden, um künftigen Schaden für die Volkswirtschaft zu verhindern. Für die Wiedergewinnung einer gemeinsamen Kernenergiepolitik aller Parteien sprach sich der CDU-Abgeordnete Rie-senhuber aus. Er bedauerte, daß diese Gemeinsamkeit durch die Parteitage der Koalitionsparteien ins Schleudern geraten sei. Bundesforschungsminister Hauff (SPD) hatte sich am Morgen entschieden gegen die Auffassung der FDP-Dissidenten gewandt, daß der Weiterbau in Kalkar schon einen Einstieg in die Plutoniumswirtschaft bedeute. Vielmehr befinde man sich in einem noch nicht abgeschlossenen komplizierten Erkenntnisprozeß, in dem der Umkehr Möglichkeiten offengehalten würden. Zugleich warnte er davor, schon heute aus Angst vor den Folqen „Nein" zu sagen und damit den Anschluß der Bundesrepublik an die internationale Entwicklung zu verpassen. Auch der FDP-Abgeordnete Lärmann betonte, daß zum gegenwärtigen Zeitpunkt ein Abbruch der Bauarbeiten und begleitenden Forschungsarbeiten in Kalkar nicht verantwortet werden könne...... |
RHEINISCHE POST Kommentar 15. Dez. 1978 ZEITUNG FÜR POLITIK UND CHRISTLICHE KULTUR Koalitionen in Nöten Von Joachim Sobotta
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