Rheinische
Post MONTAG, 26. SEPTEMBER 1977
(Titelseite)
RP- Fotos Gottfried Evers: Demonstranten auf dem Markt;
dichte Polizeiketten vor dem Brüter
30 000 Kernkraftgegner in Kalkar
Scharfe Kontrollen verhinderten Chaos
Hirsch: Taktik der Polizei bewährte sich
Von Helmut Breuer und Wolfgang Josing
Kalkar — Die bisher größte Demonstration gegen Kernkraftwerke in der Bundesrepublik endete am Wochenende ohne die befürchteten Auseinandersetzungen mit der Polizei. Die mehr als 30 000 aus dem In- und Ausland nach Kalkar am Niederrhein gereisten Kernkraft-Gegner marschierten zwar entgegen den gerichtlich bestätigten Auflagen der Behörden bis in die unmittelbare Nähe der Baustelle des „Schnellen Brüters", lieferten sich aber keine gewaltsamen Auseinandersetzungen mit den rund 8000 um Kalkar eingesetzten Beamten der Polizeien aus fünf Bundesländern und des Bundesgrenzschutzes. Der nordrhein-westfälische Innenminister Hirsch (FDP) führte den friedliche Verlauf der Demonstration auf die bereits auf den Anfahrtswegen vorgenommenen scharfen Kontrollen und auf die defensive Taktik der Polizei zurück, die seiner Weisung entsprechend die Einhaltung der Auflagen nicht erzwungen hatte.
Bereits am Freitagabend hatten zur Überraschung zahlreicher
Demonstranten in allen Teilen der Bundesrepublik und an den Grenzen zum
benachbarten Ausland umfangreiche Polizeikontrollen begonnen. In
Hamburg, München, Frankfurt und Stuttgart zum Beispiel durchsuchten die
Ordnungskräfte das Gepäck und die Fahrzeuge der in Richtung Kalkar
startenden überwiegend jungen Kernkraftgegner. Nach Angaben von Minister
Hirsch wurden bei diesen Kontrollen bei Durchsuchungen an den
Knotenpunkten der Autobahnen und an den Grenzen insgesamt 40 000
Demonstranten, 2070 PKW und 480 Busse gründlich überprüft. Auch die Zug wurde auf freier Strecke gestoppt Einen spektakulären Höhepunkt erreichten diese Kontrollmaßnahmen, die bis zum Samstagnachmittag andauerten, in der Nähe von Kalkar. Eine Hundertschaft der Polizei, die mit Hubschraubern an die Bahnlinie transportiert worden war, stoppte gegen Mittag einen planmäßigen Personenzug auf freier Strecke. Die Reisenden mußten aussteigen und wurden durchsucht, weil die Polizei einen Hinweis bekommen hatte, daß in dem von Duisburg kommenden Zug 250 bewaffnete Demonstranten säßen. Die rund einstündige Polizeiaktion einen Kilometer vor dem Kalkarer Bahnhof brachte jedoch dafür keine Bestätigung. Die von den Organisatoren der Demonstration wegen der erheblichen Zeitverzögerungen heftig kritisierten Aktionen führten zu folgendem Ergebnis: Insgesamt wurden 5500 Waffen oder waffenähnliche Geräte im Gewicht von mehreren Tonnen sichergestellt. Die Polizeibeamten beschlagnahmten u. a. Messer, Schlagstöcke, Eisenrohre, Macheten und Fahrradketten, Äxte, Beile, Bolzenschußgeräte, Totschläger, Stahlkugeln und zahlreiche zum Bau von Molotow-Cocktails geeignete Materialien. |
Festgenommen wurden 112 Demonstranten, von denen einige zur
Fahndung ausgeschrieben waren. Der durch diese Kontrollen erheblich verzögerte Demonstrationszug zum „Schnellen Brüter" in Kalkar setzte sich erst am späten Nachmittag in Bewegung, nachdem bereits mehrere tausend Demonstranten die Heimfahrt angetreten hatten. Von den Behörden war den zahlreichen Organisationen, die zur Kundgebung aufgerufen hatten, nur eine Strecke freigegeben, die zwei Kilometer in Richtung der Baustelle des Kernkraftwerks, dann aber wieder zurück nach Kalkar führte. Da der überwiegende Teil der Veranstalter — von den Bürgerinitiativen bis hin zu den extremistischen „K-Gruppen" — trotz dieser Auflage erklärt hatte, man werde bis auf eine Wiese gegenüber der Baustelle marschieren, hatte Innenminister Hirsch Anweisung gegeben, diesen Marsch nicht durch polizeiliche Maßnahmen zu verhindern, um Blutvergießen zu vermeiden. Tatsächlich wurden auch alle Polizeieinheiten, die den ganzen Samstagvormittag über den Zugang zum „Brüter" blockiert hatten, abgezogen, als sich der- Demonstrationszug in Marsch setzte. Während rund 4000 Protestler sich an die vorgegebene Strecke hielten, zogen etwa 12 000 der Demonstranten — darunter teilweise bewaffnete „Chaoten" — ungehindert bis vor die Baustelle. Trotz mehrfacher Aufrufe, die von der Polizei mit schwerem Gerät und dem Einsatz tausender Beamten streng bewachte Baustelle zu besetzen, konnten von der Demonstrationsleitung eingesetzte Ordner Auseinandersetzungen mit der Polizei verhindern. Innenminister Hirsch erklärte abschließend, der Auftrag der Polizei, Leben und Eigentum zu schützen und Gewalt zu verhindern, sei erfüllt worden. Man habe eine Demonstration ermöglicht und Landfriedensbruch verhindert. Sprecher der Bürgerinitiativen sprachen dagegen von einer „Terrorisierung der Demonstration durch Hirsch" und behaupteten, ihr besonnenes Verhalten und ihr Ordnungsdienst habe den friedlichen Verlauf garantiert. |
Anmerkung: Zwischenüberschriften und Fettdrucke wurden zur besseren Übersicht und Lesbarkeit nachträglich in den RP-Artikel eingefügt!
-ku